User:Aschmidt/Standortbestimmung Wikipedia 2013

From Meta, a Wikimedia project coordination wiki
Der folgende Text ist eine leicht redigierte Fassung zweier Beitrage, die ich im Februar 2013 in der Diskussion zum Thema PR und Werbung in Wikipedia in der Grillenwaage geschrieben hatte.[1][2]

Die Diskussion zum Thema Paid Editing gibt die Möglichkeit zu einer Standortbestimmung des ganzen Projekts bis hierher und weiter.

Weil der Begriff des Monopols gefallen ist, möchte ich gerne darauf eingehen, in welchen Punkten ich mich von der offiziellen Linie von WMF und WMDE unterscheide. WMDE hat in seinem Kompaß 2020 die Vision formuliert: Jeder, der etwas wissen will, geht [im Jahr 2020] zu Wikimedia. Ich hoffe, mit Verlaub, daß es niemals soweit kommen wird, denn das wäre ein Monopol, und in einer pluralistischen und demokratisch verfaßten sozialen, offenen Gesellschaft kann und darf es auf Wissen und Bildung keine Monopole geben. Ich möchte, daß sich freies Wissen in Vielfalt entwickelt. Ich möchte, daß es neben den Wikimedia-Projekten weiterhin Raum gibt für andere Wikis, die nicht nur als Auffangbecken für unsere Löschkandidaten dienen. Projekte, die nicht notwendigerweise Enzyklopädie sind und die gleichwohl der gesellschaftlichen Verständigung über Themen dienen. Wikis sind ein Ort, an dem sich die Zivilgesellschaft über sich selbst verständigt. Jegliche Form von Monopolisierung verbietet sich deshalb im Bereich des freien Wissens, und derzeit werden aus den Spendeneinnahmen ja auch weiterhin andere Projekte wie OpenStreetMap gefördert; ich hoffe sehr, daß es dabei auch in Zukunft bleibt.

Welches wären wünschenswerte Entwicklungslinien?

  • Die Community muß selbst bestimmen, wo es langgeht, nicht – ich sage mal, ausdrücklich nicht in Anlehnung an Fossas Diktum, sondern for want of a better word – „Manager“ in Wikimedia-Organisationen, die Pläne und sonstige Szenarien für die weitere Entwicklung der Projekte aufstellen und die alles durch die betriebswirtschaftliche Brille sehen. Der Verweis auf „die Mitgliederversammlung“ führt zu keiner anderen Beurteilung, denn die hat bisher noch kein eigenes Szenario gegen die Geschäftsführung durchgesetzt. Das betrifft vor allem auch das Wachstum des ganzen. Natürlich gibt es auch Grenzen des Wachstums und der sonstigen Entwicklung, die zu respektieren sind.
  • Wikimedia sollte die Community bei ihren selbstgewählten Zielen behilflich sein. Ich hätte z.B. überhaupt keine Probleme damit, wenn WMDE ein oder zwei Honorarkräfte einstellen würde, die die vielen 404er-Weblinks abarbeiten, die uns der Giftbot vor ein paar Monaten um die Ohren gehauen hatte. Das wäre ein wirklich sinnvoller Einsatz bezahlter Arbeit in Wikipedia, die sich überhaupt nicht in die Kompetenzen der Autoren, der Redaktionen und Fachbereiche einmischen würde, solange lediglich gefixt wird, ohne inhaltliche Änderungen vorzunehmen. Und die Autoren könnten sich in der Zeit um neue Inhalte kümmern.
  • Qualität steht im Vordergrund. Die Autoren haben es z.B. bis heute nicht geschafft, in den Künsten, in den Geistes- und Sozialwissenschaften auch nur ansatzweise Literaturen und Werke oder sozialwissenschaftliche Theorien oder philosophische Lehren umfassend und verständlich zu beschreiben. An der Uni Köln wird derzeit versucht, dagegen im juristischen Bereich etwas zu unternehmen, wo es an manchen Stellen besonders lichterloh brennt. Aber das sind nur Tropfen auf den heißen Stein. Auch hier könnte Unterstützung beim Aufbau eines aktuellen Bestands an Wissen sehr viel im Dienste der Leser und der Community bewirken. Der Transfer von Inhalten aus der Wissenschaft in den freien Bereich geschieht nicht von selbst. Wo er nicht von der Community in Gang gesetzt wird, sollte er durchaus von Wikimedia über das Hochschulprogramm oder über Wikimedians in Residence gefördert werden.
  • Aber auch: Die Community verwahrt sich gegen jegliche Einflußnahme aus Politik und Wirtschaft. Das Interesse an Wikipedia hat in den Parteien und bei den Unternehmen erheblich zugenommen, weil man Wikipedia als einen weiteren Kanal für die Öffentlichkeitsarbeit entdeckt hat. Dort geht es um Dienstleistungen für Unternehmen und Parteien, die hier ihre Produkte lancieren und ihre Wahlkämpfe führen möchten, was ganz klar projektfremde Ziele sind. Das sind Störer, denn es geht ihnen nicht um den Aufbau einer Enzyklopädie oder um Aufklärung. Dagegen sollte sich die Community deshalb deutlich abgrenzen.

Zu der bisherigen Debatte aus meiner Sicht:

  • Es wird sehr häufig gesagt, man könne gegen Paid editing nichts mehr tun, denn es werde breits laufend praktiziert. Kantianisch heißt es aber: Aus einem Sein kann kein Sollen folgen. Aus einem Mißstand folgt nicht, daß er zu legalisieren wäre, wenn man die Folgen, die damit verbunden sind, nicht gutheißen kann.
  • Das Paid-Editing-Projekt von Southpark verstehe ich als Teil der zunehmenden Einflußnahme von WMDE auf Community-Belange. Im Jahresplan 2013 heißt es, WMDE werde sich in einer neuen Rolle in Debatten einbringen und das Finden von Entscheidungen unterstützen. Southpark ist für dieses Projekt bei WMDE sozialversicherungspflichtig angestellt worden, er ist aufgrund seines Arbeitsvertrags weisungsgebunden, er betreibt das CPB-Projekt und er moderiert die weitere Diskussion dazu in der Community. So eine umfangreiche Einflußnahme auf die Community-Belange hat es tatsächlich noch nicht gegeben, nur in der englischen Wikipedia gab es bisher Fellows, die so ähnlich angelegt waren. Es hat keinen konkreten Anlaß für diese großangelegte Diskussion gegeben. Von der Community ist der Impuls dazu nicht ausgegangen, und auch sonst hat es dazu keinen Anlaß gegeben. Damit gibt Wikimedia jedenfalls seine Neutralität in Bezug auf die Inhalte von Wikipedia auf, was doch sehr bedenklich ist. Weil es der erste Vorgang dieser Art ist, empfiehlt sich eine stetige kritische Überprüfung der Abläufe in diesem Projekt, wobei auch der baldige Abbruch erwogen werden sollte.
  • Man sollte auch einmal über die bereits jetzt sehr umfangreiche Einflußnahme auf Community-Prozesse im Zusammenhang mit Politik/Unternehmen nachdenken. Der Fall Liesbeth ist meines Wissens niemals umfassend aufgeklärt worden. Die Hintergründe sind jedenfalls nicht öffentlich gemacht worden, wahrscheinlich sind sie auch, wenn überhaupt, nur sehr schwer zu ermitteln. Was folgt daraus für unsere Fragestellung? Unternehmensaccounts als Wähler oder SG-Mitglieder oder Admins oder Bürokraten? Unternehmen mit Einblick in interne Abläufe in Wikimedia-Organisationen? Hier besteht noch viel Klärungsbedarf.
  • Meine Prognose wäre, daß sich die pragmatischen Nerds am Ende wohl durchsetzen werden: Paid editors werden geduldet als nützliche Arbeiter (ich möchte mich nicht drastischer und abwertender ausdrücken) auf zwei Seiten – gegenüber dem eigenen Auftraggeber und der Community. Die Wohnungsbaugesellschaft aus der Provinz, die sich ihren eigenen Wikipedia-Auftritt schreiben läßt, ist ein schönes Beispiel dafür. Was ist denn schlecht an dem Artikel? Merkt man es ihm an? Nein. Non olet. Na, also.
  • Unsere Spender lehnen Paid editing übrigens rigoros ab. Der Fall der Archäologischen Zone Köln hat doch für einige Unruhe quer durch die Zielgruppen gesorgt, bis hin zu der direkten Frage: „Soll man eigentlich für Wikipedia spenden?“ Da ist man als Wikipedianer dann schon gefordert. Schon der Banner für die Wikimania-Stipendien sorgt bei Lehrern für Unruhe: „Was ist denn das? Gibt es jetzt Werbung in Wikipedia?“
  • Indem Hubertl [in der Diskussion in der „Grillenwaage“] das Engagement für freies Wissen mit einer Bezahlung auf Hartz-IV-Niveau verbindet, entsteht ein merkwürdiges Bild. Ist das alles, was wir hier tun, so wenig wert, daß man einer Honorarkraft oder einem Wikimedian in Residence nicht mehr dafür bezahlen könnte? Ist es wünschenswert, die Notlage von Hilfebedürftigen auszunutzen, indem man sie für die Ziele des freien Wissens einnimmt? Das sollte nicht sein, es gibt Mindestlöhne, die auch hier einzuhalten wären, und soviel persönliche Wertschätzung sollte auch aufzubringen sein, soweit es um Arbeiten geht, die ich oben ausdrücklich begrüßt haben. Andererseits stimme ich in einem Punkt Hubertl vollkommen zu: Wikipedia ändert sich ständig und muß deshalb auch immer wieder neu verstanden werden. „Die Nordsee ist ein mehr…“ war Wikipedia 2001. Der Experten-Artikel zu Otto Stangl von 2011 ist Wikipedia. Und die Altenaer Baugesellschaft ist Wikipedia 2013. Nein, ich sag die lateinischen Floskel jetzt nicht, ich verlinke sie nur.

Warum ist ein nicht aus freien Stücken heraus entstandener Beitrag zu Wikipedia kein aus meiner Sicht – ich sage jetzt mal: valider Beitrag? Oben habe ich geschrieben: Dort geht es um Dienstleistungen für Unternehmen und Parteien, die hier ihre Produkte lancieren und ihre Wahlkämpfe führen möchten, was ganz klar projektfremde Ziele sind. Das sind Störer, denn es geht ihnen nicht um den Aufbau einer Enzyklopädie oder um Aufklärung. Und ich würde das auch im nachhinein noch für selbstverständlich halten, den Wahlkampf und PR zielen auf Manipulation, sie zielen darauf, Inhalte nicht-neutral darzustellen und damit eben nicht auf Aufklärung, die den einzelnen in die Lage versetzen soll, sich eine eigene Meinung zu bilden. Der NPOV ist ein Grundprinzip von Wikipedia und kann von interessegeleiteten Auftragsarbeitern nicht erwartet werden. Er ist von diesen auch nicht bezweckt, denn sie möchten ja gerade einen Bias herbeiführen.

Ob das gleichwohl hier toleriert werden kann, wird vielfach als ein bloßes Qualitätsproblem gesehen. Es ist aber auch ein ethisches Problem. Auch das hatte ich oben schon angesprochen. Wer hier nur auf die oberflächlichem Inhalte eines Artikels abstellt, verkennt den Zusammenhang den Zusammenhang von „Erkenntnis und Interesse“, er sagt: Non olet, und er zeigt, daß es ihm gleichgültig ist, wie die Inhalte zustandekommen. Dieser Standpunkt ist möglich, es ist aber nicht meiner.

Parallelen würde ich vielleicht zum Doping im Sport ziehen, wo man ein allgemeines Verbot aufgestellt hat, während gleichzeitig große Sportveranstaltungen wie etwa die Tour de France durchgeführt werden, die kaum mit einer normalen Ernährung und ohne leistungssteigernde Mittel durchzuhalten sind. Ist Wikipedia ohne das große Geld durchführbar und sollte das so sein? Meines Erachtens ja. Sollte sich die Community gegen die Einflußnahme aus Politik und Wirtschaft wehren? Meines Erachtens ja, denn der Odeur der PR ist ein strenger Geruch, und es ist heute schon sehr schwer, ein Parfüm zu finden, das ihn noch überdecken könnte.

Im Kern ist es zunächst ein Problem der Selbstbestimmung der Community: Wie ist es um die Selbstbestimmung der Community bestellt,

  • wenn eine Wikimedia-Organisation beschließt, Artikelarbeit mit Fördermitteln bezahlen zu lassen (Nawaro)?
  • wenn eine Wikimedia-Organisation beschließt, darauf hinzuwirken, die Zusammensetzung der Community zu verändern (Ziel „Diversität“ im Jahresplan 2013 von WMDE)?
  • wenn eine PR-Agentur damit wirbt, daß sie einen Wikipedianer eingestellt hat, der dabei behilflich sein werde, ein Unternehmen oder dessen Produkte oder dessen Botschaft oder was auch immer in Wikipedia vorteilhaft zu präsentieren?
  • wenn eine PR-Agentur damit wirbt, in Gestalt eines Tools den Goldstandard für die Beurteilung von Artikeln in Wikipedia geschaffen zu haben, an den Autoren, den Redaktionen und WikiProjekten vorbei?
  • wenn ein Unternehmen beschließt, „seinen Wikipedia-Auftritt“ in die eigene Hand zu nehmen und hier
    • Artikel zum Unternehmen und zu seinen Produkten schreiben läßt,
    • flächendeckend seine Produkte, Weblinks usw. einpflegen läßt (was ja auch meist nur auffällt, wenn es stoßhaft auftritt, aber weniger, wenn es schleichend passiert);
  • wenn eine politische Partei sich liebevoll um die Artikel der eigenen Kandidaten und des politischen Gegners widmet?

Und: Was bedeutet das alles, wenn wir Außenstehenden erklären, wie sie Wikipedia in der Bildung einsetzen können,

  • wenn sich das Projekt nicht mehr gegen POVs wendet, sondern sie offensiv einbezieht und zuläßt;
  • wenn sich das Projekt für die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Verbraucherschutz und zum Wettbewerbsrecht überhaupt nicht interessiert, sondern die Verantwortung für Rechtsverstöße an die Unternehmen abschiebt und seine Hände in Unschuld waschen möchte – in Unschuld?
  • wenn ethische Aspekte bei der Artikelarbeit im Projekt keine Rolle spielen, sondern abstrakt auf „Qualität“ abgestellt werden soll?

Es geht nicht nur um die Beeinflussung von Inhalten, sondern auch um die Einflußnahme auf Community-Prozesse. Ich persönlich gehe davon aus, daß Liesbeth ein Testballon war. Es dauerte sehr lange, bis er aufgeflogen ist. Und er ist bis heute nicht aufgearbeitet. Dabei wäre es von erheblicher Bedeutung zu erfahren, wer Liesbeth war, welche Motive sie hatte und was sie heute tut? Und auch: Wovon sie abgelenkt hat? Es gibt wahrscheinlich viele Liesbeths, die einen mehr, die anderen weniger geräuschvoll, manche arbeiten auf eigene Rechnung und manche auf fremde.

Die Empörung über Liesbeth war groß, aber was unterscheidet Liesbeth von irgendeinem politischen oder wirtschaftlichen Geschäftemacher, der hier seine egoistischen Interessen verfolgt und für den Wikipedia kein aufklärerisches und emanzipatorisches Projekt ist, sondern nur eine weitere Plattform für seine Spindoctors?

Das alles überhaupt zu diskutieren, ist ein Akt der Selbstaufklärung. Es öffentlich zu diskutieren, ist aber auch ein Akt der Aufklärung der Spender.

  • Je unattraktiver Wikipedia für Kleinspender wird, desto attraktiver wird sie möglicherweise für Großspender. Wer entscheidet über diese Verschiebung der Attraktivität – die Community selbst oder Wikimedia, wo der „Fundraiser“ geplant und durchgeführt wird?
  • Je unternehmerischer die Wikimedia-Projekte organisiert und geführt werden, desto unattraktiver werden sie für Idealisten. Wer entscheidet über diese Verschiebung von Akzenten, Attraktivität?
  • Und: Wo gehen diejenigen hin, für die Wikipedia weniger attraktiv geworden ist? Wikipedia war gestern und ist heute – was kommt morgen?